Die Suche nach dem Ursprung der domestizierten Pferde ist beendet
Schon vor Tausenden Jahren spielten Pferde in den Kulturen der Menschen eine wortwörtlich tragende Rolle. Doch sie waren nicht nur Transportmittel, mit denen sich weite Strecken bewältigen ließen, sondern kamen auch bei der Feldarbeit zum Einsatz und verschafften Kriegern im Kampf einen immensen Vorteil. Trotz der wichtigen Stellung der Tiere in der Menschheitsgeschichte gab es in Bezug auf sie aber immer eine Frage, die selbst Experten bisher nie abschließend klären konnten: Woher stammen die domestizierten Pferde?
Nachdem nun hundert Wissenschaftler auf zwei Kontinenten das Thema erneut intensiv erforscht haben, gibt es endlich eine Antwort: Die Urahnen der modernen Pferde haben ihre Wurzeln im Süden Russlands.
Von drei Ursprungsorten – Anatolien, Iberien und die Steppen des westlichen Eurasiens – liefert ihre Arbeit deutliche Hinweise darauf, dass es die Steppen des westlichen Eurasiens sind, die das moderne domestizierte Pferd, Equus caballus, hervorgebracht haben.
Ludovic Orlando ist Molekulararchäologe an der französischen Université Paul Sabatier in Toulouse und Leiter der Studie, die in der Zeitschrift Nature erschienen ist. Mit seinen Kollegen hat er nun Genome von Ur-Pferden auf Basis mehrerer Skelette fossiler Pferde nachgebaut, die von Portugal bis in die Mongolei an verschiedenen Orten der Welt gefunden wurden.
Dabei stach eine Region im Süden Russlands – dort, wo Wolga und Don sich am nächsten kommen – besonders hervor. In diesem Gebiet, in dem traditionell Viehzucht betrieben wird, wurden bereits vor Jahren indirekte archäologische Hinweise auf die Domestizierung von Pferden gefunden. Die Ergebnisse der neuen DNA-Untersuchungen können jetzt jedoch belegen, dass die modernen Pferde von Vorfahren abstammen, die vor 4.700 bis 4.200 Jahren in dieser Gegend gelebt haben.
Die Menschen, die damals in der Wolga-Don-Region Pferde züchteten, nahmen die Tiere bei ihren Wanderungen in andere Teile Eurasiens mit. Auf diese Weise verbreitete sich die neue Pferdeart rasant: von Westeuropa bis nach Ostasien und darüber hinaus.
„Das war kein Prozess, der sich langsam über Tausende von Jahren entwickelt hat”, erklärt Ludovico Orlando. „Es geschah quasi über Nacht.”
„Die schnelle Verbreitung verdrängte andere Pferdearten aus Eurasien“, sagt er. Das moderne Pferd, das wir heute kennen „hat sich durchgesetzt. Wir sehen es heute überall. Seine ursprünglichen Verwandten sind die Verlierer dieser Geschichte.“
Darüber hinaus waren das Reiten und auch von Pferden gezogene Streitwagen, die ein paar hundert Jahre nach der Domestizierung zum Einsatz kamen, für die Machtdynamik zwischen den verschiedenen Kulturen von enormer Bedeutung. Es ist wahrscheinlich, dass dieser Zusammenhang den Siegeszug von Equus caballus ebenfalls begünstigt hat.
Besseres Pferd? Zucht und Zähmung
Die Menschen domestizierten vermutlich schon während der europäischen und asiatischen Bronzezeit vor 5.000 bis 4.200 Jahren Pferde. Der Vorgänger von E. caballus war ein kleingewachsenes, pferdeähnliches Tier, das im Eozän – das vor ungefähr 56 Millionen Jahren begann und vor 33,9 Millionen Jahren ins Oligozän überging – auf den Wiesen Nordamerikas graste. Nach Asien und Europa kam es während der letzten Eiszeit über die Beringia, die Landbrücke zwischen Eurasien und Amerika.
Archäologische und Historische Aufzeichnungen deuten auf eine mysteriöse Explosion der Pferdepopulation in Eurasien vor etwa 4.200 Jahren hin. Diese stand möglicherweise mit einer Ausweitung der Grasflächen und damit des Lebensraums der Pferde aufgrund des Klimawandels in Verbindung. Möglicherweise begannen aber auch Menschen an verschiedenen Orten gleichzeitig damit, eigene Herden zu züchten – oder aber, alle domestizierten Pferde hatten denselben Ursprung.
Um diese Fragen grundlegend klären zu können, war auf dem Gebiet der DNA-Analyse von fossilen Überresten wie beispielsweise Knochen und Haaren eine technologische Weiterentwicklung nötig, die erst in den vergangenen zehn Jahren stattgefunden hat. Der aktuelle technische Stand gab Ludovico Orlando und seinen Kollegen nun jedoch die richtigen Werkzeuge an die Hand, um ihre Untersuchungen erfolgreich abschließen zu können.
Geeignetes Forschungsmaterial fanden die Wissenschaftler in Museen und den Sammlungen von archäologischen Fundstellen. Die zusammengetragenen Überreste von Pferden aus ganz Europa und Zentralasien bildeten die Grundlage für die Rekonstruktion von insgesamt 273 individuellen Genomen. Indem sie den gesamten Aufbau der Genome unter Berücksichtigung der Zeit, aus der sie stammten, und der Orte, an denen sie gefunden wurden, miteinander verglichen, konnten sie nachvollziehen, wie sich der Genpool der Pferde entwickelt hat.
Indianer - Das Volk der Pferde
Es zeigte sich, dass noch vor ungefähr 5.000 Jahren unter den domestizierten Pferden eine große genetische Vielfalt bestand. Diese nahm jedoch stark ab, als die Menschen damit begannen – basierend auf Eigenschaften wie Ausdauer, Folgsamkeit und Kraft – bestimmte Tiere für die Zucht auszuwählen. Diese Auslese brachte die Pferde hervor, die wir heute kennen.
Die Studie „liefert endlich die bisher fehlenden Beweise dafür, dass die Pferde innerhalb des relevanten Zeitrahmens in der vermuteten Region gelebt haben“, sagt Vera Warmuth, Biologin an der Ludwig-Maximilian-Universität in München. Die von ihr erstellten Modelle identifizierten vor mehr als einem Jahrzehnt das Wolga-Don-Pferd als möglichen Urahnen der modernen Pferde. „Wir kamen damals zu dem Schluss, dass sich die Pferde von dieser Region aus stark verbreitet haben. Die neue Studie stützt diese Annahme“, sagt sie.
Tausendjährige Beziehung
Laut Kate Kanne, Archäologin an der University of Exeter in England, die an der Studie nicht mitgearbeitet hat, könnten eurasische Gemeinschaften, die mit dem Wolga-Don-Pferd bereits vertraut waren, seine Verbreitung beschleunigt haben.
„Dass der Prozess so schnell verlief, lag daran, dass es bereits die nötige Infrastruktur und zumindest einige Menschen gab, die sich mit der Haltung von Pferden auskannten“, erklärt sie.
Die Entwicklung endete nicht mit der Bronzezeit. Auf dem Rücken der Pferde konnten Menschen weitere Entfernungen zurücklegen als jemals zuvor, was den Handel begünstigte und sowohl zu einem großen Wissensaustausch zwischen verschiedenen Kulturen und Gemeinschaften als auch zu erhöhter Mobilität führte.
„Überall dort, wo Menschen hingingen, brachten sie ihre Pferde mit“, sagt Ludovico Orlando. Er nennt diesen Vorgang „den ersten Versuch einer Globalisierung. Die Welt der Menschen wurde kleiner, weil sie Pferde hatten.“
Einer der frühesten Hinweise auf die Domestizierung von Pferden findet sich bei der Sintaschta-Kultur, die in der Bronzezeit im Süden Russlands ansässig war. Hier fand man fossile Überreste von Pferden neben Rädern, was darauf schließen lässt, dass die Tiere zu Transportzwecken eingesetzt wurden.
Darüber hinaus verläuft die Evolution des menschlichen Genoms in Teilen Eurasiens parallel zu der der Pferde. „Die Evolution des Menschen ist durchwoben von Pferde-DNA“, sagt Kate Kanne. Die Beziehung von Menschen und Pferden „finde ich äußerst interessant. Aus beider DNA kann man auch die Geschichte der jeweils anderen Spezies herauslesen.“
Dieser Artikel wurde ursprünglich in englischer Sprache auf NationalGeographic.com veröffentlicht.
Deutsche Übersetzung von REBECCA DZOMBAK
VERÖFFENTLICHT AM 25. OKT. 2021: